40 Jahre Kunsthalle Winterthur

Die Zukunft war schöner – Ein kollektiver Rückfall in die gute alte Zeit

 
 
 

Das Kuratorenkollektiv, bestehend aus Oliver Kielmayer, Joëlle Menzi und Thomas Zacharias beschäftigt folgende Frage: Will das von Michel Fries wahrscheinlich 1981 in Horgen dokumentierte Graffiti Die Zukunft war schöner als raffinierte Chiffre oder als düsteres Menetekel verstanden werden? Der Artikel ‘Die’ und das Nomen ‘Zukunft’ für die Zeit nach der Gegenwart stehen in Verbindung mit dem im Schweizerdeutschen unüblichen Präteritum ‘war’ sowie einem komparativen Adjektiv ‘schöner’. Bedeutet dieser kurze Satz also ein in scharfsinniger Dummheit kalkuliertes Oxymoron oder ein die gewöhnliche Meinung erhellendes Paradoxon? In luzider Ambiguität wurde wohl eine Dekade angekündigt, welche sich – so Diedrich Diederichsen 2018 im Gespräch mit Kaspar König und Peter Pakesch – heute ‘komplett strange und alien’ anfühlt.
Vertraut und absolut auf der Höhe seiner Zeit wirkt immer noch das Ausstellungsprogramm der Kunsthalle Winterthur in den 80er Jahren; es orientierte sich an einer Avantgarde, welche auch zum Kanon der Documenta in Kassel gehört. Derweil geriet in Zürich – und mit leichter Verzögerung in Winterthur – eine unruhige Jugend in heftige Bewegung: Rote Fabrik statt Opernhaus, Punk statt Belcanto, F+F statt HGKZ, Selbstverwaltung statt Fremdbestimmung, Videoproduktion statt Fernsehkonsum, Bolo statt Wohnblock, Biolandbau statt Bodenverdichtung, Sonnenenergie statt Atomstrom, Frauenpower statt Männermacht, Aufklärung statt Manipulation, Selbstverlag statt Massenmedium, Lokalradio statt Weltempfänger – Zorn und Zärtlichkeit statt Kapitulation und Kälte. Leises Erstaunen verursacht aus heutiger Sicht lediglich, mit welcher Intensität diese Forderungen formuliert werden mussten, um im gesellschaftlichen Konsens Aufnahme zu finden.
Leises Erstaunen verursacht auch der Umstand, dass die Kunsthalle im Winterthurer Waaghaus von diesen Ereignissen, wenn überhaupt, nur am Rande erfasst wurde. Nach vierzig Jahren wird deshalb der Versuch unternommen, diese verblassende Dekade durch eine Parallelaktion im Seitenlichtsaal darzustellen. Konkret: Während sich im Oberlichtsaal vier Ausstellungen mit Bendicht Fivian, Adrian Schiess, Klaudia Schifferle, und Franz Erhard Walther klassisch ablösen, präsentiert sich im Jubiläumsjahr der Seitenlichtsaal als Sofa- und Medienlandschaft mit Handapparat und Wunderkammer. Das Prinzip der Wunderkammer bietet die Möglichkeit, jederzeit und kurzfristig auf die jeweilige Position im Oberlichtsaal mit weiteren Zeitzeugnissen reagieren zu können. Die Funktion als Handapparat versammelt Kataloge und Dokumente zu den Exponaten im Oberlichtsaal sowie – in Kooperation mit dem Antiquariat von Ulrich Harsch – ausgewählte Periodika und Literatur der 80er Jahre. Die Medienlandschaft spiegelt den Zeitgeist mit wechselnden Videos, Spielfilmen oder analogen Tonträgern. In der gemütlichen Sofalandschaft mit Gummibaum, Yukkapalme und Filterkaffee werden ExpertInnen und ZeitzeugInnen zu Wort kommen.
Wir schreiben das Jahr 2020. Die heute Sechzigjährigen erinnern die 80er Jahre als ihre Zeit des  Aufbruchs, die heute Siebzigjährigen entdeckten damals ihre Berufung, die heute Achtzigjährigen festigten ihre Positionen. Guter Zeitpunkt für eine Rückblende. Die Grenzen des Wachstums wurden aufmerksamen ZeitgenossInnen schon 1972 am St. Gallen Symposium durch den 1968 gegründeten Club of Rome aufgezeigt. Fünfzig Jahre später scheint die Botschaft Wirkung zu entfalten: Freitage werden von klimabesorgten AktivistInnen zur harten Arbeit an der Zukunft eingefordert – und zwar subito. Im Licht dieser aktuellen Entwicklung war die Zukunft noch nicht schöner, bleibt aber vorläufig wahrscheinlich.

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