SCRIPT – MEMORY

Chaumont-Zaerpour, Heresies, Chris Kauffmann, Fernanda Laguna, Jordan Lord, Tiphanie Kim Mall, Rietlanden Women’s Office, Niklas Taleb

 

13. April – 14. Juli 2024
Eröffnung 12. April, 18 Uhr

Die Spielregeln, die das alltägliche Miteinander organisieren, sind ein notwendiger Teil des sozialen Lebens, und zugleich sein Fluch. Wir begegnen uns, wir grüssen uns – das Gelingen des Kontakts beruht auf einem gemeinsamen Verhaltenskodex. Schon als Kinder beginnen wir, uns an ein Drehbuch zu halten, unsere Verse zu proben, sie auswendig zu lernen und schliesslich brav aufzusagen. Das Skript enthält ein „Wir“, die Menschen unserer unmittelbaren und auch ferneren Umgebung. In der Wiederholung werden wir mit ihnen und unserem Platz im Drehbuch vertraut. Die Sicherung des Ichs (die nicht unbedingt auch eine Sicherheit des Ichs garantiert), die Rückkehr zum Bekannten, ist ihr Kern. In der Sehnsucht nach einer Struktur, die das Ich stärkt und festigt, entstehen Automatismen, subtile, aber wirksame Mechanismen der Reproduktion: Gesten, Rhetoriken, Sprechweisen.

Und die Erinnerung ist listig. Sie vernebelt und hüllt ein in ein weiches Wohlbefinden; sie ist ein unscharfer psychischer Raum zwischen Realität und Fiktion. Joan Didion schreibt: „Die Zeit vergeht. Die Erinnerung verblasst, die Erinnerung passt sich an, die Erinnerung fügt sich dem, woran wir uns zu erinnern glauben.“ Um die gemeinsame Erfahrung zu bewahren, wird das für die Erinnerung wesentliche Gefühl von Verbundenheit mit Orten und Menschen ständig neu ausgerichtet.

Aber etwas scheint aus den Fugen zu geraten. Ein Kontrollverlust kann und muss vielleicht ein Modus sein, diesen Tendenzen entgegenzuwirken.

Die Werke in der Ausstellung gehen dieser Möglichkeit nach und üben sich in Gesten des Kontrollverlusts, um das eigene Sein in der Welt zu überwinden. Sie bilden eine Bühne für eine Szene ohne Skript, die Räume für (Miss-)Verstän-digung offenhält und Erinnerungen möglicherweise andere Wege gehen lässt. Dabei wird das Kunstwerk zum sozialen Ereignis: Viele der beteiligten Künstler:innen beziehen Menschen, die ihnen nahe stehen, von denen sie abhängig sind oder die sich auf sie verlassen – Familie, Freund:innen, Bekannte – in ihre Arbeit ein. Der bis heute weit verbreiteten Erzählung vom solipsistischen, allein aus sich selbst herausschöpfenden Künstlersubjekts abgeschworen, arbeiten sie mit eigenen und geteilten Geschichten, um über Formen der Involviertheit nachzudenken, Bedeutung gemeinsam zu schaffen und die Dynamik zwischen Autor:in und Subjekt neu auszuloten. Indem die Künstler:innen im Dialog mit anderen bestimmen, wie sich die Arbeit entwickelt, üben sie sich in Gesten des Kontrollverlusts und definieren die eigene Rolle und das „Wir“ im sozialen Gefüge neu. Sie befragen in einem Spiel mit Selbst- und Fremderfassung die Idee des Künstlers/der Künstlerin als Soziologe/Soziologin. Oftmals von den Emotionen getragen, die in einem solch engen Austausch entstehen, zeichnen sich in den konzeptionellen Rahmungen der Werke formale Brüche ab, die herausstellen, dass die Erinnerung – und die Geschichtserzählungen, die bei ihrer Entstehung mitwirken – immer subjektiv und unvollständig ist, und zugleich ein Spiegel der Realität. Die Künstler:innen geben die Kamera aus der Hand, nehmen die Selbstdarstellungen anderer auf und dokumentieren die Gesten des alltäglichen Lebens. Sie setzen Rahmen und Filter ein, um zu verdoppeln (wer erzählt die Geschichte?), zu verwischen (es ist nur ein Teil der Geschichte!) und zu verfremden (mach dir dein eigenes Bild), wobei sie sich stets zwischen Immersion und Distanz bewegen.

In einem weiteren und gesellschaftspolitischen Sinne geht es um die Frage nach unseren Beziehungsweisen. Viele sprechen von der Notwendigkeit der Zusammenarbeit, von der Sehnsucht nach Gemeinschaft. Aber um was geht es eigentlich bei einer Praxis, die sich auf andere einlässt, und was steht auf dem Spiel, wenn Menschen, die bereits eine Gemeinschaft bilden, plötzlich gemeinsam arbeiten? Die Fassade des Konsenses zerbricht schon bei geringem Widerstand. Sie treffen sich, sie grüssen sich, und es zeigt sich die Möglichkeit, dass sie sich vielleicht nicht verstehen. Was, wenn der behaupteten Schwierigkeit von Zusammenarbeit eine unterschwellige Angst innewohnt, sich selbst zu verlieren? Schliesslich kann Kontrollverlust beängstigend, beschämend und verwirrend sein. Oft folgt auf das Gefühl, von anderen eingeengt zu werden, der unangenehme Eindruck, automatisch, dem eigenen, schön auswendig gelernten Drehbuch entsprechend zu reagieren. Der zwiespältige, widerspenstige Teenager kommt noch immer gern zum Vorschein. Anfälle von Sehnsucht nach Symbiose und Geborgenheit paaren sich mit der Angst, durch andere eingeschränkt zu werden. Die entscheidende Frage ist jedoch nicht, woher die Tendenz zum Selbstschutz rührt, denn es steht ausser Zweifel, dass der Kontrollverlust ein prekärer, sogar ein unerträglicher Zustand sein kann. Vielmehr gilt es zu fragen, wie wir uns selbst (und die anderen) im Gewirr der Erzählungen wiederfinden.

In den Kunstwerken scheinen immer wieder Momente des Ausgeliefertseins, des Loslassens und des Einlassens auf, die Narrative und Verbindungen für die Kultivierung von Gemeinschaft anbieten. Nicht selten verweisen sie auch auf Kontexte und Geschichten, die nicht automatisch dazu gehören, in denen der Zusammenschluss zur Behauptung einer gleichen Sprache notwendig war und ist. Die Ausstellung schlägt eine Politik der Partizipation statt einer Politik der Repräsentation vor, in der künstlerische Arbeiten zu einem elementaren Bestandteil komplexer Übersetzungsprozesse zwischen Menschen einer Gruppe werden. Im Bestreben, das Unvorhersehbare in die Gleichung einzubeziehen, markiert sie den Beginn eines Denkens über die Kunsthalle Winterthur als einen Raum der Beteiligung.