In the voices of others
Mit Arbeiten von Leda Papaconstantinou & Carole Roussopoulos und Alice Visentin
Kuratiert von Marta Federici
„Meine Arbeit war stets von den Stimmen anderer getragen“, erklärte die Dokumentarfilmemacherin Carole Roussopoulos (1945–2009) einmal. Als Pionierin im Umgang mit dem damals neuen Medium Video begleitete sie die sozialen Kämpfe der 1960er und 70er Jahre, und entwickelte eine filmische Praxis, in deren Mittelpunkt die dialogische Begegnung mit dem Leben steht. Roussopoulos’ Worten folgend, versteht das von Marta Federici kuratierte Film- und Performanceprogramm In the voices of others künstlerische Produktion als einen Beziehungs- und Begegnungsraum und als Werkzeug zur Schaffung kollektiver Erzählungen. Das Programm präsentiert den Film Bouboulina (1981) von Leda Papaconstantinou und Carole Roussopoulos sowie Material for a Thousand Stories (2024), eine neu entwickelte Performance von Alice Visentin. Über verschiedene Generationen hinweg sammeln die drei Künstlerinnen Geschichten und Zeugnisse aus den Begegnungen mit Menschen und Orten, die sie zu vielstimmigen Erzählungen zusammenfügen, die soziale Dynamiken thematisieren und dabei persönliche und kollektive Erfahrungen als räumliche und emotionale Kartographien nachzeichnen.
Die beiden Künstlerinnen Leda Papaconstantiou (1945, Ambelonas, Griechenland) und Carole Roussopoulos (1945, Lausanne – 2009, Wallis) lernten sich auf der griechischen Insel Spetses kennen. Ihre Zusammenarbeit basiert auf einem geteilten Interesse an feministischer Kunstproduktion und einer damit verbundenen Verpflichtung zu sozialem und politischem Engagement. Ihren ersten gemeinsamen Film Bouboulina drehten sie mit Roussopoulos’ handlicher Sony Portapak-Videokamera, die sie als Werkzeug nutzten, um mit den Inselbewohnerinnen von Spetses ins Gespräch zu kommen. Der Film ist eines der ersten griechischen Beispiele eines Videodokumentarfilms im Stil des „cinéma militant“, einer von Roussopoulos geprägten Form des politisch engagierten Kinos, die sich im Zuge der 1968er-Bewegung in Frankreich herausbildete und bisher nicht repräsentierten Subjekten eine Stimme zu geben suchte. Im Zentrum des Films Bouboulina steht das Leben der legendären Laskarina Bouboulina (ca. 1776-1825), einer Frau aus Spetses, die während des griechischen Unabhängigkeitskrieges 1821 Kommandantin der Marine war und deren Geschichte von den Inselbewohnerinnen erzählt wird. Während sie über Bouboulina sprechen, gehen sie alltäglichen Tätigkeiten wie dem Weben nach, wobei sich ihre eigenen Lebenserfahrungen mit den kollektiven Erinnerungen an die gefeierte Heldin verflechten. Sie sprechen über Arbeit, Bildung und affektive Beziehungen im Kontext einer kleinen Insel, auf der die Zeit ihren eigenen Rhythmus zu haben scheint. Papaconstantinou und Roussopoulos verstehen sich dabei – wie letztere sich selbst gerne beschrieb – eher als Dirigentinnen, denn als Regisseurinnen, die die von ihren Gesprächspartnerinnen angeregten Gedanken aufgreifen und arrangieren und dabei das Zuhören als Praxis betonen.
Das Zuhören steht auch im Mittelpunkt der künstlerischen Praxis von Alice Visentin (1993, Cuorgnè, Italien). In ihrer Performance Material for a Thousand Stories (2024) kombiniert sie Bilder und Sound zu einer neuen Interpretation dessen, was sie als „analoges Kino“ bezeichnet. Dabei wird anstelle einer Filmrolle eine lange, bemalte Papierrolle von Hand entfaltet und über die Bodenplatte eines Episkops geführt, einem optischen Gerät, das einer Laterna Magica ähnelt und die opaken Bilder in Lichtprojektionen verwandelt. Die Bilder werden von einer Klanglandschaft begleitet, die in Zusammenarbeit mit dem Musiker und Sounddesigner Mattia Barro Splendore entstand und sich aus verschiedenen Sounds zusammensetzt, die die Künstlerin während ihrer zahlreichen Reisen aufgenommen hat. Das Meeresrauschen in einer Höhle an der sardischen Küste verbindet sich dabei mit einem aus der Ferne gehörten Gespräch, mit Glockenläuten, Geräuschen aus der Londoner U-Bahn, Fragmenten eines Spoken-Word-Konzerts und vielen weiteren Klängen. Visentin erkundet Orte, Gespräche, Bücher und Gerüchte, sammelt Bruchstücke der Realität und verwebt sie intuitiv zu einem vielstimmigen Ganzen. Ursprünglich in der Malerei ausgebildet und praktizierend, fühlt sich die Künstlerin zum Kino hingezogen, weil es ein imaginatives Potenzial und Möglichkeiten der Montage bietet. In Bewegung versetzt beschwören ihre Werke die flüchtige Textur von Träumen und sind durchdrungen von den Lichtern und Schatten eigener und fremder Erinnerungen und Fantasien. In ihnen ist das Leben nie in einer eindeutigen Form gefangen, sondern wird durch einen Prozess der Vervielfältigung durcheinandergebracht, durch den sich die Bedeutungen ständig verdichten und verschieben. Wenn Leda und Carole Dirigentinnen sind, die durch die Praxis des Zuhörens zuvor ungehörte Geschichten filmisch arrangieren, so lässt sich die Arbeit von Visentin vielleicht als ein Gefäss vorstellen, in dem subterrane Geschichten entstehen, die sich im Prozess eines ständigen Fliessens in zahlreichen Rinnsalen ausbreiten.
In the voices of others ist Teil des umfassenden künstlerischen Forschungsprojekts Geografie dei sé / Geografien des Selbst, das unter der Leitung von Marta Federici entwickelt wurde. Das Projekt untersucht Bildproduktionen und narrative Verfahren von Videoarbeiten und Experimentalfilmen, die sich den Veränderungen im Mittelmeerraum widmen. Indem es die Rolle und den Raum künstlerischer Praktiken als Zeugnisse sozialer, politischer und kultureller Veränderungen in dieser Region hinterfragt, reflektiert das Forschungsprojekt Themen wie die Konstruktion hegemonialer Narrative, den Wert von audiovisuellen Materialen als historische Dokumente sowie die Beziehung zwischen Bild und Erinnerung.
Geografie dei sé / Geografien des Selbst wird mit Unterstützung des Programms des Italian Council von 2023 realisiert, das von der Direzione Generale Creatività Contemporanea des italienischen Kulturministeriums zur Förderung zeitgenössischer Kunst in Italien unterstützt wird.
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Leda Papaconstantinou (1945 geboren in Ambelonas, Griechenland) lebt und arbeitet auf der griechischen Insel Spetses. Zwischen 1965 und 1966 studierte sie an der Hochschule der Bildenden Künste Athen und zog anschliessend nach London, wo sie am Loughton College of Art und am Maidstone College of Art studierte. 1971 kehrte sie zurück nach Griechenland. Zwischen 1975 und 1979 initiierte sie das gemeinschaftsbasierte Arme Theater Spetsiotiko Theatro – Spetses Players. Ihre Arbeiten wurden in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen in internationalen Institutionen gezeigt. 2024 wurde ihre Retrospektive Time in my hands im Nationalen Museum für Zeitgenössische Kunst (EMST) in Athen präsentiert.
Carole Roussopoulos (1945–2009) verbrachte ihre Kindheit in Sion und studierte später in Lausanne. 1967 verliess sie die Schweiz und zog nach Paris, wo sie ihren zukünftigen Partner Paul Roussopoulos kennenlernte. Mit ihm gründete sie das militante Filmkollektiv Video Out. 1970 drehte sie ihren ersten Film Genet parle d‘Angela Davis. Als feministische Aktivistin dokumentierte sie nicht nur die Aktionen und Kämpfe der neuen Frauenbewegung, sondern begleitete auch die allgemeinen sozialen Bewegungen, die im Zuge der 68er-Bewegung entstanden. 1982 gründete sie gemeinsam mit Delphine Seyrig und Ioana Wieder das Centre Audiovisuel Simone de Beauvoir, das erste feministische Archiv für audiovisuelle Medien in Frankreich. Roussopoulos starb 2009 und hinterliess ein umfassendes Werk aus über hundert Dokumentarfilmen.
Alice Visentin (1993 geboren in Cuorgnè, Italien) schloss 2018 ihr Studium an der Accademia Albertina di Belle Arti in Turin ab. Sie ist Mitbegründerin und Mitkuratorin der selbstorganisierten Schule Bagni D’Aria. 2024 präsentierte sie die Einzelausstellungen Amanti Fabula bei Sunday in London und Everyday Mystery in der Gió Marconi Galerie in Mailand. 2023 war sie Stipendiatin der American Academy in Rom und zeigte die Einzelausstellung The Morning Tide of Moods bei Lateral Roma. Weitere Einzelausstellungen umfassen Malefate im Almanac Project in Turin und Planète im Italienischen Kulturinstitut in Paris (beide 2021). 2024 erhielt sie ein Aufenthaltsstipendium bei Gasworks in London sowie ein Stipendium des Programms des Italienischen Rats des Kulturministeriums.
Marta Federici ist Kuratorin und Kunsthistorikerin. Sie ist Co-Leiterin des Kunstraums Lateral Roma (Rom, IT) und Teil der kuratorischen Plattform LOCALES. Von 2021 bis 2024 arbeitete sie am MACTE Museo di Arte Contemporanea di Termoli, wo sie 2024 die Ausstellung Bruno’s House von Salvatore Arancio mitkuratierte. 2023 kuratierte sie die Einzelausstellung Leave the door ajar / Leave the door ajar von Nolwenn Salaün im Almanac Inn in Turin. Weitere kuratorische Projekte realisierte sie im Museum of Civilizations in Rom; bei 3 137 / Enterprise Projects in Athen, in Magazzino Italian Art in New York, im Museo Madre in Neapel sowie in der Villa Arson in Nizza.
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20:00 Uhr
Einführung von Marta Federici
20:15 Uhr
Screening des Films Bouboulina (1981) von Leda Papaconstantinou & Carole Roussopoulos, 34 Min.
Pause
21:15 Uhr
Performance von Alice Visentin, Material for a Thousand Stories (2024)
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Das Forschungsprojekt Geografie dei sé / Geografien des Selbst unter der Leitung von Marta Federici wird durch das Programm des Italian Council von 2023 gefördert.
Der Film Bouboulina wird vom Centre Audiovisuel Simone de Beauvoir zur Verfügung gestellt, das für den Vertrieb der Filme von Carole Roussopoulos sorgt.